Auf 1.000 m2 wird im „Atelier 10“ in der Anker-Brotfabrik Menschen mit schwierigen Lebensbedingungen ein Platz zum Kunstschaffen und Ausstellen zur Verfügung gestellt. Während ein paar Künstler auf der Terrasse rauchen und andere konzentriert den Pinsel über die Leinwand gleiten lassen, führe ich mit Herrn Reese im Aufentahltsraum ein Gespräch über die Freiheit der Kunst, zu erwartende Risiken und wieso man den Begriff „Art Brut“ hier außen vor lassen möchte. Und das, obwohl vermutlich die Mehrheit der Menschen genau an jenen Begriff denken, sobald sie das erste Mal von dem Projekt hören.
Möglicherweise ist genau das der Grund, warum Ihnen die Vermeidung dieser Begrifflichkeiten ein Anliegen ist? Inwieweit geht es darum Menschen nicht in Schubladen einteilen zu wollen?
Heutzutage entstehen immer weniger Begriffe, die irgendetwas umreißen sollen, weil Kunst immer individueller wird. Die Kunst hier im Atelier 10 ist so unterschiedlich, dass jede Form der Schubladisierung diskriminierend und unsagbar grobschlächtig wäre. „Art Brut“ wurde 1945 von dem französischen Künstler Jean Dubuffet erfunden. Er hat ihn vor allem als Trade Mark für sich verwendet, indem er Kunst gesammelt hat, die von Menschen geschaffen wurde, die im sozialen Abseits sind: Leute aus dem Gefängnis, Menschen, die damals noch massiv in Psychiatrien weggesperrt wurden, aber auch Künstler, die in den Bergen lebten oder in irgendeiner anderen Form „von der Gesellschaft weg waren“. Art Brut wurde – genauso wie Outsider Art – dazu genutzt Kunst zu beschreiben, hat sich aber immer auf den Außenseiterstatus der Leute bezogen. Das gibt es in der Kunstwelt sonst nirgendwo, dass die soziale Randständigkeit eines Künstlers Namensgeber für eine Kunstsparte ist. Noch dazu ist der Begriff mittlerweile 71 Jahre alt. Wenn du heute Kunst machst und es kommt jemand zu dir und sagt „du bist Konzeptkünstler“, dann antwortest du wahrscheinlich „Konzeptkunst ist in den 70er Jahren erfunden worden. Ich arbeite konzeptuell. Ich möchte mich da nicht einordnen.“ Du kannst dich dagegen wehren. Aber die Künstler, deren Arbeiten wir an die Oberfläche bringen wollen, können sich gegen solche Einordnungen nicht wehren. Der Kunstbereich ist im Vergleich zu anderen Arbeitsmetiers der freieste und anarchistische. Würden wir diese Kraft und Freiheit nicht ausnützen, zögen wir uns erneut an den Tellerrand.
Das Atelier 10 befindet sich was die Lage anbelangt weniger am Tellerrand als vielmehr inmitten in der Anker Brotfabrik, in bester Nachbarschaft mit anderen Galerien. Wie ist das Verhältnis und wie haben Sie die Entwicklung in den vergangenen Jahren wahrgenommen?
Aus unserer Sicht ist es so, dass wir von Anfang an als absolut vollwertiges Projekt akzeptiert wurden. Das war nicht vorauszusetzen. Wir haben zu jeder einzelnen Galerie ein sehr gutes Verhältnis. Wenn ich eine Ausstellungseröffnung plane, schaue ich welcher von den Nachbarn in dieser Zeit auch etwas geplant hat, um Synergien schaffen zu können. Aber im Grunde ist es ein loser Verbund von einzelnen künstlerischen Einrichtungen. Es ist auch nicht so, dass wir in der Brotfabrik überrannt werden. Da haben wir noch viel Arbeit vor uns, aber die Atmosphäre stimmt. Es gibt andere Einrichtungen in dem Kontext Kunst und Psychiatrie, die von Anfang an Schwierigkeiten gehabt haben. Wir haben zu Gugging den Vorteil, dass wir hier in einem ganz klar kulturell definierten Kontext angesiedelt sind, während Gugging erstmals die gebrannte Erde der Psychiatrie abschütteln muss. Deswegen brauchen wir auch nicht von Außenseiterkunst reden, weil künstlerisch haben wir keine Außenseiter. Wir brauchen nicht von Inklusion reden, weil wir bereits inkludiert sind. Das wäre so, wie wenn man sagen würde, die Fotografie müsse in die Kunstwelt inkludiert werden. Das ist schon längst geschehen.
Sie selbst haben elf Jahre in Gugging gearbeitet bevor sie gemeinsam mit der Caritas das Atelier 10 ins Leben gerufen haben …
Irgendwann in meiner Berufslaufbahn habe ich Leute von der Caritas kennengelernt und gesehen, dass sie im künstlerischen Bereich sehr engagiert sind. Die Caritas Wien hatte damals drei Malgruppen in niederösterreichischen Einrichtungen. Ich habe gefragt, warum sie in diesem Spannungsfeld – Kunst und Behinderung beziehungsweise Kunst und psychiatrische Erkrankung – keine künstlerische Einrichtung in Wien haben. Das war der Stein des Anstoßes. Es gab damals drei besonders engagierte Leute bei der Caritas. Mit ihnen habe ich das Konzept geschrieben. Wir wollten von Anfang an kein kleines Kellerpanoptikum sondern genauso viel Platz wie der staatlich subventionierte Künstler beispielsweise im Semper Depot auch bekommt. Gleiche Rechte, gleiche Voraussetzung.
Wie viele Künstler arbeiten zurzeit hier und was muss man als Künstler oder Künstlerin mitbringen um einen Atelierplatz bei Ihnen zu bekommen?
Im Moment arbeiten ca. 15 Künstler fix hier. Sie bekommen von uns die Sicherheit, dass sie den Platz nicht verlieren, auch wenn sie ein Jahr krank oder in der Psychiatrie sind. Im Jahr bewerben sich rund 60 Menschen. Das sind Menschen mit Behinderung, im psychiatrischen Kontext, aber auch mit Flüchtlingshintergrund oder Obdachlose. Wir können jedem, der sich bei uns vorstellt und dem klassischen Caritas Klientel entspricht – das heißt, auch wenn es sich zynisch anhört, über eine ausreichend schwere soziale Rückenlage verfügt – ungeachtet der Qualität der Kunst ein fünfwöchiges Künstlerpraktikum anbieten. Der Bewerber bekommt einen Platz und Material. Er muss jedoch nach fünf Wochen wieder gehen, darf sich aber im nächsten Jahr wieder bei uns melden. Wenn ich und meine zwei Mitarbeiter das Gefühl haben, dass ein explizites Talent da ist, dann versuchen wir einen fixen Arbeitsplatz und einen Galerievertrag zu schaffen.
Muss man über einen Atelierplatz bei Ihnen verfügen oder dürfen auch andere Künstler in der Galerie ausstellen?
Ich strebe Kooperationen mit der Kunstakademie und der Angewandten an, um zu Mischkonzepten zu kommen. Aber wir sind in erster Linie für jene Menschen da, die aufgrund ihrer Erkrankung oder Behinderung niemals die Chance hatten auf die Akademie zu gehen. Der staatlich subventionierte Künstler hat andere Möglichkeiten. Ich glaube zu 100 Prozent, dass ein Künstler mit einer starken intellektuellen Behinderung – vorausgesetzt das Talent ist da und der Antrieb künstlerisch tätig zu sein – sich, wenn er hart genug arbeitet, auf Augenhöhe mit einem akademisch trainierten Künstler begeben kann. Auch der akademische Künstler braucht den Support durch eine Galerie, durch Sammler, durch Mentoren. Der Unterschied ist, dass es den Leuten, die wir betreuen, nicht zugetraut wird. Oft arbeiten sie auch in einem Umfeld, wo nicht erkannt wird, dass das, was als Kritzelei so nebenbei entsteht, Kunst ist. Dafür bieten wir die Expertise. Ausstellungen entstehen bei uns nicht anders als anderswo. Im Moment haben wir eine Schau zur Technik der Zeichnung. Wir präsentieren unterschiedliche zeichnerische Zugänge. Wir zeigen auch Arbeiten von Eve Patzak, der Frau von Peter Patzak, die nach ihrem Schlaganfall angefangen hat zu zeichnen und eine zeichnerische nonverbale Poesie entwickelt hat, die sehr interessant ist.
Können die Künstler bei Ihnen im Atelier von ihrer Arbeit leben? Inwieweit dürfen sie das überhaupt?
In diesem Punkt unterscheiden wir uns von einem freien kommerziellen System. Unsere Galerie unterliegt einer gemeinnützigen GmbH der Caritas. Wir verkaufen, aber wir dürfen aufgrund der Organisationsform keine enormen Profite einfahren. Alle Künstler, die hier sind, bekommen eine Unterstützung vom Staat, weil es in ihrem Leben eine harte Zäsur gegeben hat. Entweder weil sie erkrankt sind oder weil es von Anfang an eine Behinderung gab. Was wir im Falle eines Verkaufs machen können ist, solange das Geld nur in kleinen Portionen hereinkommt, dass wir für die Künstler, die geringfügig dazu verdienen dürfen, 400 Euro im Monat ausschütten. Wenn der Fall eintreten würde, dass eine Künstlerin oder ein Künstler so viel verkaufen könnte, dass die Pensionsleistungen vom Staat wegfielen, dann würden wir das nur in Absprache mit der Künstlerin riskieren. Der Kunstmarkt ist ein schwankender und unberechenbarer, das ist reines Lotteriespiel. Würde die Nachfrage sinken, könnte der Sozialstaat nicht so schnell wieder eine Leistung aufbringen. Es gibt hier also einen Zwiespalt. Auf der einen Seite wollen wir zeigen, was die Künstler können – es wird quasi eine Nachfrage von uns evoziert – auf der anderen Seite müssen wir sagen, genug vom Kuchen gegessen. Das kann problematisch für das Selbstwertgefühl werden, wenn ein Künstler oder eine Künstlerin merkt, dass sie eine Leistung erbringen kann, für die es eine Nachfrage gibt und dann nimmt man das wieder zurück. Aber es ist hier nicht unser Ziel, dass alle Arbeiten in Wohnzimmern landen. Wir arbeiten als Team. Im Fall von Michaela Polacek ist es so, dass wir zum Teil einen Verkaufsstopp haben. Eine Künstlerin wie Michaela Polacek zeichnet, ich bin derjenige, der es rahmt und an die Wand bringt und dann kommt jemand von außen und sagt: Michaela Polacek ist toll und das Atelier 10 ist toll – so sorgen wir beide dafür, dass dieser Ort erhalten bleibt und wir weiterhin hier arbeiten können.
Sie haben Michaela Polacek angesprochen. Gerade in der Art Brut – um diesen Begriff doch noch ins Spiel zu bringen – aber auch in der Contemporary Art sind nach wie vor mehr Männer präsent. Wie ist das Geschlechterverhältnis bei Ihnen? Haben Sie spezielle Programme für Frauen?
Wir machen kein Frauenprogramm. Das fände ich diskriminierend. Genauso wie, wenn ich sagen würde: schaut her, die Leute gehören ausgestellt, weil sie eine Behinderung oder eine Erkrankung haben. Alles was mit Gönnerhaftigkeit zu tun hat, lassen wir außen vor. Wir sind hier ohne bewusstes Zutun sehr ausgeglichen. Auf der Website sind zwar mehr Männer aufgelistet, tatsächlich ist es aber so, dass die Frauen hier, von der künstlerischen Potenz den Männern überlegen sind.
Muss oder sollte Kunst für Sie einen bestimmten Zweck haben, sprich gesellschaftskritisch sein oder Menschen zum Handeln aufrütteln, Brücken schaffen, Menschen verbinden … ?
Kunst muss gar nichts. Ich fände es respektlos kunstaffinen Besuchern, die sich für Kunst interessieren, die nur schön ist, zu sagen, dass sie einen oberflächlichen Zugang haben. Eine Künstlerin bei uns mit einem Down Syndrom reflektiert Kunst im abstrakten Sinne nicht so wie wir es tun, aber ihr Zugang ist in jedem Sinn umwerfend. Sie geht in die Welt und sammelt Sachen, nimmt sie auseinander und baut sie wieder zusammen. Zu sagen, dass das nicht ausreichend ist, weil es nicht konzeptionell durchdacht ist, oder, weil es keinen besonderen Hintergrund gibt, das halte ich für absolut engstirnig. Ich weiß nicht, ob ich weinen oder lachen soll, wenn einmal mehr ausgerufen wird, die Malerei ist tot. Es ist so unglaublich lächerlich das zu hören. Für mich ist es ein Zeugnis von Langeweile im Kunstbetrieb, wenn man versucht sich intellektuell verkrampft zu positionieren. Wir haben hier Leute, die permanent ihre Kunst reflektieren, die sich auch mit der Kunst der anderen auseinandersetzten, was man im weitesten Sinne als akademisch bezeichnen könnte. Wir haben aber auch Künstler hier, die eine intellektuelle Behinderung haben und sich nicht mit dem Stellenwert der Kunst in unserer Gesellschaft oder der Kunst anderer auseinandersetzten. Beide Gruppen schätzen sich über das, was sie tun. Das zeigt, dass Kunst, egal welche Erscheinungsform sie hat, einen kollektiven Charakter hat. Ich verstehe nicht, wozu das gut sein soll, Kunst in einen elitären Rahmen zu pressen.
Vielen Dank für das Gespräch.
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